Pfälzische Gemütlichkeit, Emotionen und eine späte Überraschung – Frankenthal 2021

03.11.2019 - Dieses Datum markierte die letzte Turnierpartie in Döbeln von Alv und mir (abgesehen von den unregelmäßigen Punktspielen) vor und während der Pandemie. Die Entzugserscheinungen wurden zumindest bei mir immer schlimmer und bei Alv kann ich mir nicht vorstellen, dass es anders gewesen ist. Die Suche nach schönen Turnieren gestaltete sich problematisch. Bis ich auf ein Turnier stieß, welches den Namen "Schach dem Virus!" trug. Es sollte vom 19.08. bis 21.08.2021 im pfälzischen Frankenthal unweit von Mannheim und Ludwigshafen stattfinden. Eine etwas längere Reise, die Alv und ich aber bereit waren, anzutreten. Die Sehnsucht nach den 64 Feldern war einfach zu groß. Erste Probleme fanden sich jedoch schon vor der Anreise ziemlich schnell, denn Alv und ich entschieden uns trotz eines zweiten in der Luft liegenden Streiks per Bahn anzureisen. So war uns auch vor der Reise nicht langweilig. Auf der Hinfahrt gab es zum Glück keine Probleme. Nach dem Einchecken in unserer Unterkunft suchten wir schon 16:00 Uhr, also zwei Stunden vor dem Start der ersten Runde, das Spiellokal zur Anmeldung auf. So früh waren fast keine anderen Teilnehmer da. Unsere frühe Ankunft wurde jedoch registriert und so suchten wir uns erstmal etwas zu essen. Gegen 17:30 Uhr waren wir zurück und erwarteten so langsam die Erstrundenansetzungen. Vorher wurden alle Teilnehmer noch auf Impfungen, Genesungen oder Tests kontrolliert. Die Maske durfte nur am Brett abgenommen werden.


Vor der ersten Runde gingen wir davon aus, dass wir in Runde 1 Gegner im DWZ-Bereich zwischen 1200 und 1300 bekommen. Doch dann kam die erste Überraschung: Aufgrund der hohen Teilnehmerzahl wurde das Turnier relativ kurzfristig in zwei Gruppen gesplittet, wobei eine „Grenze“ bei 1800 DWZ gezogen wurde. Für Alv und mich bedeutete dies, dass wir in unserer A-Gruppe nun auf einmal zu den Unterdogs zählten. Wir ließen uns davon aber nicht beirren und freuten uns trotzdem. Die Tatsache, dass Teilnehmer jedoch auch ohne eine Minimum-DWZ von 1800 freiwillig in das A-Turnier wechseln konnten, verzögerte die erste Runde sehr weit nach hinten. Mittlerweile war es ungefähr 18:30 Uhr. Nachdem diese Sache geklärt war, kamen endlich die Ansetzungen und wir bereiteten uns auf die erste Turnierpartie seit fast zwei Jahren vor. Dann der nächste Dämpfer: Die Auslosungssoftware streikte und es kam wohl zu Fehlern in den Ansetzungen, so zumindest unsere Vermutung. Nochmal warten. Erst gegen 19:15 Uhr ging dann der eigentliche Spaß los. Ich hatte mit den weißen Steinen in Runde 1 einen 2200er Gegner vor der Brust, Alv hatte Schwarz gegen eine 2140. Die Bretter waren freigegeben, ein kurzer Faustgruß diente als Ersatz des üblichen Handschlags. Die Uhr wurde angedrückt und ich atmete nochmal tief durch, bevor es nach 655 Tagen Turnierabstinenz endlich wieder losging. 1.d4.

Ich hatte mich die Wochen zuvor in meine Eröffnungen vertieft und fühlte mich dementsprechend gut vorbereitet. Nun war hier meine Theorie nach drei Zügen leider schon vorbei. Nun gut, versuchen wir halt so, uns durch die Eröffnung zu navigieren. Bis Zug 14 lief auch alles soweit. Dann unterlief mir bereits der spielentscheidende Patzer. Wer mag, kann ja mal raten, welcher Zug die Partie hier komplett wegwirft und wie Schwarz diesen Zug bestraft. Die Lösung gibt es wie immer am Ende des Berichts.

Innerlich angefressen und mit einer toten Stellung spielte ich die Partie bis Zug 50 aus und konnte meinem Gegner immerhin das Leben etwas erschweren, woraufhin er mir am Ende seinen Respekt zollte. Ich bin schließlich nicht knapp fünf Stunden durch halb Deutschland gefahren, um nach einer halben Stunde aufzugeben. Alv erging es leider nicht wirklich besser. Ihm unterlief zwar kein elementarer taktischer Fehler, sein gleichfarbiges Läuferendspiel mit Minusbauer war trotzdem nicht zu halten. Schwamm drüber, es war ja nur die erste Runde.

In Runde 2 standen Alv und ich schon etwas unter Zugzwang gegen jeweils 1600er Gegner. Vorher gings für Alv noch zum Corona-Test. Eine zeitige Anreise war also notwendig. Alv kam leider nur zu einem Remis, weil sein Gegner ihm genau dann jenes geboten hatte, als Alv sich im vermeintlich schlechteren Endspiel wähnte. Ich hätte ihn in diesem Moment am liebsten gehauen. 
In meiner Partie durfte ich eine Variante spielen, in der ich schon in der Eröffnung die Dame für drei Leichtfiguren gebe und die Stellung alles andere als klar ist. Der entscheidende Unterschied war, dass ich die Variante ausblitzen konnte und mein Gegner nach Zug 13 schon fast die Hälfte seiner Zeit verbraucht hatte. Ich wähnte mich in einer guten Ausgangslage. Alv und andere Spieler, die nur für eine halbe Minute auf mein Brett schauten, blickten mich zwar an, als sei ich völlig verrückt geworden, aber ich konnte darüber nur schmunzeln. Nur wenige Züge später war mein Gegner schon so sehr in Zeitnot, dass eine einfache taktische Falle meinerseits ausreichend war, um die Dame nach einer doppelten Springergabel für nur zwei Leichtfiguren zurückzugewinnen, was meinen Gegner praktisch zur Aufgabe zwang, welche dann auch prompt folgte.

Vor Runde 3 war es dann das erste Mal, dass ich Hilfe aus der Ferne bekam. Mein Schachfreund Julian hatte sich meinen Gegner ausgeschaut und in diversen Datenbänke Spiele finden können. Grund genug für mich, in der doch relativ langen Pause die entsprechenden Varianten nochmal durchzugehen, zumindest fürs Gewissen. Für Alv kam es knüppeldick, denn sein Gegner tauchte auch nach der halben Stunde Karenzzeit nicht auf und die Partie ging kampflos an ihn. Er verabschiedete sich ins Hotel, während ich mich mit einer positionell schwierigen Entscheidung konfrontiert sah:


c4 oder nicht c4? Das war hier die Frage. Der fehlende weiße e4-Hebel war für mich am Ende Grund genug, dann doch c4 zu versuchen. Wenn es nicht klappen sollte, kann Grischan mir im Training dann immer noch erzählen, wann solche Züge gut sind oder nicht, so mein Gedanke. Es entwickelte sich eine geschlossene Stellung, in der beide Seiten die größte Zeit mit Rangierarbeiten der eigenen Figuren zu tun hatten und irgendwann in Zeitnot kamen. Seltsamerweise spielten wir die Zeitnot-Phase vor Zug 40 besser als danach, so sieht es zumindest die Engine. Ich sah mich am Ende in einem äußerst äußerst unangenehmen Endspiel und steckte prompt nochmal 25 Minuten in die Stellung um Zug 41, um eine Remis-Variante zu finden. Nachdem wir beide nicht optimal spielten, kam die Stelle, für die ich eigentlich gesteinigt gehöre. Besonders, wenn man bedenkt, dass ich an diesem Tag sogar mein „Never play f6“-Shirt getragen habe.

Natürlich war es auch hier der Verlustzug, so wie immer. Doch weder mein Gegner, der hier selber 15 Minuten rechnete, noch ich fanden die Gewinnvariante. Einer der Schiedsrichter nennte uns den korrekten Zug als Vermutung, sahen zu dritt aber danach immer noch keinen Durchbruch. Ihr könnt ja selber mal schauen, ob ihr die Gewinnvariante für Weiß findet. Auch hier gibt es die Lösung wieder am Ende. Nach fünf Stunden Kampf bot mein Gegner mir dann kurz vor der dreifachen Stellungswiederholung Remis. Wir konnten beide nicht ganz begreifen, wie ich das halten konnte. Vielleicht wachte zu diesem Zeitpunkt schon mein an diesem Tag verstorbener Großvater über meine Partie, anders konnte ich es mir zu diesem Zeitpunkt auch nicht erklären. Grund genug für Alv und mich, danach noch das ein oder andere alkoholische Getränk auf den Mann zu erheben, der mir dieses Spiel vor 13 Jahren beigebracht hatte. Möge er in Frieden ruhen.

Der Samstag danach war auch schon der letzte Turniertag. In Runde 4 bekam ich es mit einem Spieler aus Fürth zu tun und auch hier hatte Julian schon alle wichtigen Informationen über das Eröffnungsrepertoire für mich zusammengestellt, sodass ich mir auch hier nochmal fix die wichtigen Varianten anschauen konnte. Es sollte sich auszahlen. Zumindest bis zu dem Punkt, an dem ich nicht mehr wusste, welcher Zug jetzt an der Reihe war. Ich entschied mich natürlich für den falschen und landete sehr schnell in einer unbekannten Stellung, in der ich völlig gehirnbefreit meine Stellung gnadenlos überzog und bald zwei Bauern weniger hatte. Ich vermutete irgendwo Kompensation, die Engine sieht das natürlich anders. Zum Glück konnte mein Gegner seine Bauern aber auch nicht halten und so hatten wir irgendwann Materialausgleich. Ich wartete mit dem Remisgebot bis Zug 41 in der Hoffnung, er würde in der Zeitnot vielleicht seine Stellung überziehen oder einen Patzer begehen. Tat er aber nicht und wir einigten uns. Alv fuhr inzwischen sein Lieblingsergebnis ein. Das Einzige, was ich aus der Partie mitbekam, war die Tatsache, dass ich vermutete, dass er seine Dame einzügig eingestellt hatte, bis ich die Fesselung entdeckte, die das Schlagen der Dame unmöglich machte.

In Runde 5 sollte mit einer 2100 nochmal ein richtiger Brocken auf mich zukommen, zumal ich Schwarz hatte. Alv bekam eine 1900 mit Weiß. Mein Gegner kam erstmal 10 Minuten zu spät, schließlich war noch Pizza für die Fürther Truppe übrig. Ja, meine Gegner aus Runde 4 und 5 kamen aus dem gleichen Verein.
Die Tatsache, dass mein Gegner nach 1.e4 c5 2.Sf3 e6 3.Sc3 spielte, warf mich nicht wirklich aus dem Konzept, weil Julian (wer auch sonst) mich vor dem Spiel noch fix informierte, dass er danach wohl in die Hauptvarianten zurückgehen würde. So kam es auch und wir landeten nach Zug 12 nach einer weiteren Zugumstellung in einer Variante, von der ich wusste, dass der sehr interessante 13. Le5!? in remislichen Varianten mündete.

Und ich war mit diesen Varianten durchaus vertraut. Zu irgendwas musste meine Vorbereitung ja gut sein. Aber er wählte einen anderen Zug 13. Se2, welcher mich sehr stutzig machte. Ok, noch ist nichts passiert und so spielte ich 13... Tc8 relativ schnell. Falls ihr die Partie genau so emotional wie ich gedanklich weiterspielen wollt, empfehle ich euch, hier mal kurz nachzuschauen, ob euch an dieser Stellung irgendetwas auffällt.

Ich hoffe, ihr habt die subtile Drohung Lxg5 gefunden. Ich ging davon aus, dass mein Gegner mit dieser vertraut ist und rechnete mir nichts weiter aus. Als dann seine Hand zum ersten Mal in Richtung des Springers ging, wurde ich auf einmal nervös. Würde er diese Drohung übersehen? Nein, das kann nicht sein. Er ließ davon plötzlich ab. Er hatte sie wohl doch gesehen. Zu schade aber auch. Dann der Schock: 14. Sg3. „Moment, das wehrt die Drohung doch gar nicht ab, oder? Was ist hier eigentlich los?“ dachte ich mir. Mein Puls ging auf gefühlt 200 und ich wurde auf einmal unruhig. Ich konnte nicht begreifen, was er da gerade gezogen hatte und war völlig durch den Wind. „Beruhig dich, du hast alle Zeit der Welt!“ schrie ich mir innerlich entgegen. Ich atmete tief durch und nahm einen Schluck Wasser und rechnete nochmal: „Lxg5 … Falls Dxg5 kommt Dxc2 Matt. Und dazwischen stellen kann er auch nichts! Verdammt nochmal, was habe ich übersehen, so ein Spieler kann so etwas doch unmöglich übersehen!“. Nochmal durchatmen, nochmal ein Schluck Wasser. Und nochmal rechnen. Immer das gleiche Ergebnis. Kurz schaute ich mir auch Sxg3 an, verwarf ihn dann aber schnell. Erstmal noch einen Kaugummi und nochmal rechnen. Auch das Nachbarbrett blickte auf meine Stellung und wurde ebenfalls unruhig. Ich sah zum ersten Mal seit drei Minuten meinen Gegner an, der mittlerweile kopfschüttelnd das Gesicht in den Händen vergrub. Das bestätigte mich in der Idee und nach einer gefühlten Ewigkeit opferte ich meinen Läufer. Noch bevor ich die Uhr drücken konnte, sah ich seine Hand zur Aufgabe über der Stellung.
Und auf einmal kamen alle Emotionen der letzten 24 Stunden in mir hoch und ich musste mich echt zusammenreißen, ihnen dort nicht komplett freien Lauf zu lassen. Mein Partieformular konnte ich nur noch mit zitternder Hand zu Ende ausfüllen. Ich konnte gar nicht begreifen, was gerade geschehen war. Ich brauchte erstmal einige Zeit, bis ich wieder klar denken konnte und mir wieder einfiel: Alv gibts ja auch noch.

Er hatte in seiner letzten Runde einen Bauern herausgearbeitet, konnte das Endspiel mit Dame und den Schwarzfeldern aber leider nicht gewinnen. So schloss Alv das Turnier mit 2.5/5 ab. Ich landete bei 3/5 und kletterte dazu wieder über die 1900. Mit diesem unerwarteten Sieg durfte ich mir dann auch noch berechtigte Hoffnungen auf einen Kategoriepreis machen. Letztendlich rechneten Alv und ich jedoch nach, dass es genug Spieler gibt, die selbst in meiner Kategorie (DWZ<1900) besser abschnitten als ich. So verabschiedeten wir uns nach einem kurzen Plausch vom Turnierorganisator. Ein emotionales, aber auch schönes Turnier ging zu Ende. Bis auf die Schwierigkeiten vor der ersten Runde war alles absolut top organisiert. Wir konnten beide dieses Turnier nur weiterempfehlen. Leider wurde die gute Stimmung am nächsten Tag noch etwas durch Probleme beim Checkout unserer Unterkunft getrübt, aber auch das war zum Glück relativ schnell vergessen. Wenigstens wurde an jenem Sonntag noch nicht gestreikt und wir kamen ohne Probleme nach Hause. Gelohnt hat es sich allemal. Und das nächste Turnier folgt für mich schon kommendes Wochenende. Das Turnierfieber ist wieder da. Und alle dachten, das Turnier ist vorbei: Falsch geglaubt!

 Völlig unerwartet bekam ich am Montag Abend die folgende Mail vom Turnierorganisator:

"Hallo Herr Bauer,
 
ich darf Ihnen gratulieren. Aufgrund Ihrere Leistung im Turnier "Schach dem Virus!", haben Sie einen Preis gewonnen!
 
Alle weiteren Informationen entnehmen Sie bitte dem angehängten Schreiben.
 
Viele Grüße

Landesspielleiter Pfälzischer Schachbund e.V.
Jan Wilk" 
 
Ich habe keine Ahnung, wie ich doch noch zu diesem Preis gekommen bin und freue mich dennoch, dass sich die vielen Wochen und Stunden der Vorbereitung ausgezahlt haben.

Zum Abschluss noch die Lösungen der zwei kleinen Hausaufgaben: 

In der ersten Partie spielte ich den fatalen Fehlern 14. h3??, der nach der brillianten Antwort 14. Sxe3!! zum sofortigen Verlust führt. Ich habe das Opfer angesichts 15. fxe3 Dxg3+ 16. Kh1 Dxh3+ 17. Kg1 Dxe3+ 18. Kh1 Dxd4 mit vier Minusbauern ablehnen müssen und musste mit Dd2 die Qualität opfern.

Im zweiten Rätsel gibt es zwei Gründe gegen 53... f6:
1. Never play f6!
2. Die Gewinnvariante lautet: 54. h5! fxg5 55. hxg6 Sf6 56. Lxg5 Sg8 mit Zugzwangmotiven, die auch nach 56... Se8 auftauchen würde. 54... gxh5 führt nach 55. g6 f5 56. Ld4 bzw. Lg5 ebenfalls zur Niederlage.

 

2 Gedanken zu “Pfälzische Gemütlichkeit, Emotionen und eine späte Überraschung – Frankenthal 2021

  1. Matthias Kürschner SK langen

    Hallo Timon, hoffe ihr seit gut nach Hause gekommen . In Frankenthal habe ich auch zweimal mitgespielt. Schön geschrieben.

    Viele Grüße nach Leipzig

    Matthias

    Antwort
    1. Timon Danny Bauer

      Beitragsautor

      Hallo Matthias,

      ja, wir sind beide gut wieder zu Hause angekommen. Wir möchten dir an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich für deine spontane Hilfe gestern danken. Du hast auf jeden Fall einen gut bei uns. Hoffentlich kreuzen sich unsere Wege mal wieder.

      Liebe Grüße
      Timon

      Antwort

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