Timons Eröffnungsexperimente in Karlsruhe

2019 fand die letzte Ausgabe des Grenke Chess Open und Classics statt, bevor das C-Virus unser aller Alltag durcheinander gebracht hat. Damals konnte ich im B-Open 6 aus 9 Punkten holen, was bis heute eines meiner besten Turnierergebnisse ist.  Nach fünf Jahren Pause wurde das wahrscheinlich weltweit größte Schachturnier wieder ins Leben gerufen und ich trat mit einem Großteil meiner am Ende insgesamt sechsköpfigen Reisetruppe erneut im mit 1177 Menschen besetzten B-Open an. Ob ich meinen Erfolg aus 2019 reproduzieren konnte? 

Die Gartenhalle des Karlsruher Kongresszentrums: Hier findet sich ein Großteil der Bretter des B- und C-Opens.

Gespielt wurde wie vor fünf Jahren auch schon im Karlsruher Kongresszentrum von Gründonnerstag mit Ostermontag. Wer gerne mal ca. 2600 Schachspieler und Schachspielerinnen auf einmal beobachten möchte, kann das bei diesem Turnier am besten tun, allein knapp 2000 spielten gleichzeitig in der oben abgebildeten Gartenhalle, in der auch ich acht meiner neun Spiele bestritten habe. Diese enorme Masse an Spielern und Spielerinnen verteilten sich auf insgesamt drei Gruppen: Im A-Open konnte man mit einer Minimum-ELO von 1950 mitspielen. Im C-Open durfte man noch mitmachen, wenn man unter 1400 DWZ und 1640 ELO war. Der "große Rest" versammelte sich im B-Open. Alle drei Gruppen spielten im Modus 90'+15'+30''. Darüber hinaus wurde natürlich auch wieder das Grenke Chess Classic gespielt, dieses Jahr allerdings nicht im klassischen Format, sondern in einem langsamen Schnellschach-Modus 45'+10'', den ich als etwas seltsam empfand. Die Protagonisten Carlsen, Ding, MVL, Rapport, Keymer und Fridman spielten pro Tag zwei Schnellschachturniere im Double Round Robin Modus, wobei an Karfreitag im Gegensatz zu den Open-Turnieren spielfrei war und das Classic schon ein paar Tage eher begann.

Die Open-Turniere begannen am Gründonnerstag-Abend um 18:30 Uhr, was am Ende eher 19:30 Uhr war. Hier erwartete mich in meiner Auftaktpartie gleich die erste Überraschung: Eine 1700er Spielerin, die einen WIM-Titel führte. Und falls ihr euch jetzt denkt: "1700 und WIM, wie geht das zusammen? War die 90 Jahre?!" - (Zitat Frank Mü.) - Ich weiß auch nicht, wie das zusammen passt. Schon in Partie 1 startete ich mit dem, was ich mir als Ziel gesetzt hatte: Ein bisschen mit anderen Eröffnungen experimentieren und schauen, was dabei herauskommt. Mein Plan ging nur bedingt auf, denn mit den schwarzen Steinen manövrierte mich meine Gegnerin gut aus und so bescheinigte ihr der Silikonfreund zwischendrin mal eine -4 Stellung, die sich für mich auch genau so anfühlte, besonders wenn man sich dann noch solche Züge, wie solche hier gefallen lassen muss: 

 Runde 1 nach 30... Tg3.

Es kostete mich sehr viel Überwindung, nicht direkt das Handtuch zu werfen. Nach meinem 31.Dh5 erlaubte sich meine Gegnerin dann glücklicherweise einige Ungenauigkeiten und auf einmal hatte ich eine Gewinntaktik auf dem Brett:

Runde 1 nach 34.e5.

Meine Gegnerin entschied sich hier für 34...Le7. Wer sieht, warum 34...Lf8 notwendig war und wie ich ihren Zug bestrafen kann? Die Auflösung gibt es wie immer am Ende des Berichts. In Zug 38 stand dann mein erster Zwischenstand des Turniers fest: 1 aus 1. 

In Runde 2 bekam ich es dann mit einem sehr jungen Gegner zu tun und hier spielte sich mein Eröffnungsroulette aus. Ich hatte in meiner Vorbereitung gesehen, dass mein Gegner 1.c4 spielt und wusste, dass es dazu Partien mit meinem Hauptrepertoire im Internet gibt. Also entschied ich mich noch mehr für etwas komplett anderes und als ich schon in Zug 1 nicht das machte, was mein Gegner erwartete, beobachtete ich, wie meinem Gegner das Gesicht einschlief und jegliche Motivation für die Partie verschwand. Die Partie endete ohne große Probleme für mich im Remis. Nach der Partie bestätigte mir mein Gegner dann, dass er wohl von einem 2300er Vereinskollegen Varianten bis Zug 23 präsentiert bekommen hat, die nach meinem ersten Zug alle hinfällig waren. 

In Runde 3 kam ich mit Weiß nicht gut aus der Eröffnung, hatte aber bald ein Endspiel auf dem Brett, in dem ich sogar einen Bauern mehr hatte, allerdings mit Läufer und Springer gegen das Läuferpaar ankämpfen musste. Ich versuchte alles mögliche und ging irgendwann sogar ins ungleichfarbige Läuferendspiel. Nachdem ich 79 Züge jedes Manöver ausprobierte, stand dann tatsächlich der Sieg auf dem Brett:

 

Runde 3 nach 79...Lf3.

Hier gewinnt relativ offensichtlich 80. Ke5. Der lange Kampf hat sich gelohnt, endlich stand die Siegchance auf dem Brett. Konsequent spiele ich 80. Ld2 und schmeiße den Sieg weg ... 

Runde 4 beinhaltet wohl den kuriosesten Zwischenfall des Turniers. Mein Gegner entschied sich mit Weiß dazu, fast den gesamten Damenflügel zu opfern, um einen sehr dubiosen Mattangriff zu starten. So stand ich aus der Eröffnung heraus mit zwei Mehrbauern da, zu denen sich irgendwann ein dritter dazugesellte. Als ich in Zug 28 meine letzten Figur aktivierte, stand mein Gegner plötzlich kommentarlos auf, hielt die Uhr an und suchte einen Schiedsrichter auf. Ich blieb verwundert am Brett zurück, weil ich mir keinen Reim darauf machen konnte, was mein Gegner vorhatte. Wenn ich die Gesichtszüge der Spieler der Nachbarbretter richtig interpretierte, wunderten die sich genau so sehr wie ich. Nachdem er kurz mit einem Schiedsrichter sprach, kam er wieder und stellte ebenfalls kommentarlos die Uhr wieder an. Der Schiedsrichter gab mir auf meinen fragenden Gesichtsausdruck hin zu verstehen, dass mein Gegner wohl Sehprobleme hatte (wenn ich ihn richtig verstanden habe). Eine sehr kuriose Szene. Zum Zeitpunkt der Zeitkontrolle hatte ich ein Damenendspiel mit vier Mehrbauern auf dem Brett. Es hat mich noch weitere 31 Züge gebraucht, bis ich allen Schachgeboten ausgewichen war und eine zweite Dame auf dem Brett auftauchte, wonach mein Gegner aufgegeben hat. 

In Runde 5 bereitete ich geduldig die Übernahme des Zentrums vor, verpasste dann aber eine gute Möglichkeit, weil ich eine taktische Nuance hier übersah:

Runde 5 nach 16...Dd6.

Meine Berechnung sah so aus: 17.d4 cxd4 18.cxd4 exd4 19.e5 fxe3 und bei mir hängt auch sehr viel. Wer findet hier die entscheidende Verbesserung? Die Partie endete später im Remis. 

Runde 6 sah dann den Grund, warum ich meine Eröffnungsexperimente mitten im Turnier dann doch beendete. Ich freute mich, dass mein Gegner mit 1.e4 eröffnete und endlich mal die Eröffnung spielen durfte, die sich im Verein so großer Beliebtheit erfreut. Nein, ich rede nicht von Französisch oder Caro-Kann, sondern von DER Eröffnung schlechthin: 1...d5! Der Skandinavier stand auf dem Brett. Leider ging dieses Experiment nicht sooooo gut für mich aus. Ich ließ mich von meinem 1700er Gegner im Mittelspiel einfach komplett ausmanövrieren und konnte das Endspiel mit Minusqualität nicht halten. Lacht nur drüber und genießt den Moment; ihr habt von meinem Skandi noch nicht die letzte Partie gesehen ...

Sichtlich angefressen wechselte ich für die letzten drei Spiele zu meinem Hauptrepertoire zurück. In Runde 7 drehte ich in der Eröffnung allerdings völlig am Rad und hatte irgendwann einfach ersatzlos zwei Bauern weniger. Glücklicherweise handelte es sich dabei für meinen Gegner um einen isolierten e-Doppelbauern (sieht man auch nicht so oft oder?), von dem ich erst den vorderen und einige Züge später den hinteren erobern konnte. Am Königsflügel gab ich dafür dann meine 3 vs 2 Majorität auf, um seine 3 vs 2 Majorität am Damenflügel im Springer-Endspiel dann ohne große Gewinnversuche seinerseits zum Remis zu bringen. 

Vor Runde 8 war ich etwas überrascht, mit meinen 4 aus 7 plötzlich an Brett 10 zu sitzen. Relativ schnell stellte ich dann aber heraus, dass ich einen Gegner bekommen hatte, der eine fixierte Brettnummer hat. Die Eröffnung lief trotz Hauptrepertoire sehr wackelig und es entwickelte sich eine hochkomplizierte strategische Stellung mit ineinander verkeilten Bauernketten, bei denen ich den richtigen Moment abwartete, um endlich den ersehnten Bauerndurchbruch zu erreichen. Irgendwann semi-opferte mein Gegner dann einen Bauern und wir fanden uns in dieser Stellung wieder:

Runde 8 nach 35. b6.

Ich vermute mal, dass es für euch kein großes Problem sein wird, meinen nächsten Zug zu finden. Und falls ihr gerade doch auf dem Schlauch steht, gebe ich euch noch den Hinweis, dass sich mein Läufer (versteckt sich im Moment noch hinter den Bauern auf b7) am Ende der Partie auf dem f3-Feld wiederfindet und ich meinen Gegner dank eines Mattangriffs mit dem Turm-Manöver
f7-->f3-->b3-->b1-->h1 (und noch --> h3 theoretisch) zur Aufgabe zwang. 

Runde 9 sah dann zum Abschluss des Turniers ein relativ unspektakuläres Remis, weil ich mit Weiß das Mittelspiel etwas ungenau behandelte und keiner von uns beiden dann irgendwas riskieren wollte. Somit landete ich am Ende des Turniers nach 3 Siegen, 5 Remis und 1 Niederlage mit 5,5 aus 9 auf Platz 277 von 1177, womit ich mich knapp im obersten Fünftel der Endtabelle wiederfinde. 

Turnierfazit: Dafür, dass ich relativ viel experimentiert habe, ist das Ergebnis vermutlich in Ordnung. Unzufrieden bin ich mit der hohen Anzahl der Remis; vor allem, wenn man bedenkt, dass ich fast nur gegen Gegner gespielt habe, deren DWZ sich zwischen 1690 und 1740 bewegt hat. Wie auch schon 2019 hat es wieder extrem großen Spaß gemacht. Nur ob ich mir nach dem Turnier nochmal freiwillig einen Nachtaufenthalt auf dem Frankfurter Hauptbahnhof gönne, überlege ich mir bis nächstes Jahr nochmal (nicht unbedingt zu empfehlen, aber fühlt euch frei, es selbst auszuprobieren!) 
Meine DWZ wird um ungefähr 20 Punkte schrumpfen, aber hey, es könnte schlimmer sein. Man stelle sich vor, man hätte eine Glatze und eine große Nase ...
(https://www.youtube.com/watch?v=pIR3wsAEGt4)

Nun noch die Auflösung der Rätsel:
Runde 1: Nach 34. e6 Le7?? 35.e6! Le8 gibt es auf einmal die Taktik 36. Dh7 und der Läufer ist weg. Spiele ich den schon einen Zug vorher mit 35.Dh7?? kann Schwarz mit 35...De6 beide Figuren decken. Wahlweise kann man mit 35... Dg6 auch matt drohen, wenn man will. 

Runde 5: Die korrekte Variante geht so: 17.d4 cxd4 18.cxd4 exd4 19.Lg5!! bewegt den Läufer aus dem Angriffsbereich des schwarzen Bauers mit Tempo heraus und droht immer noch e5! Falls Schwarz 19...f6 spielt, spielt Weiß trotzdem 20.e5 und gewinnt die Qualität mit einer Gewinnstellung.

Runde 8: 35... La6 aktiviert den Läufer ohne, dass ich meinen Turm auf a8 abstellen muss, weil der Läufer angesichts des dann ungedeckten Turms auf e1 unantastbar ist. 

Ein Gedanke zu “Timons Eröffnungsexperimente in Karlsruhe

  1. Frank

    Danke für den schönen Bericht! Deine Aktivitäten scheinen dich ja wieder ordentlich in Form gebracht haben! 😃

    Antwort

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